Dienstag, 5. März 2013

Die Bücher meiner Schwester




Wie bei fast allen Menschen, die gerne schreiben, ging auch bei mir das leidenschaftliche Lesen voraus. Schon als Kind sparte ich mein ganzes (weniges) Taschengeld für Bücher. Außerdem fuhr ich regelmäßig in die Bücherei oder lieh mir Bücher von Freundinnen aus. Ein Tag ohne Bücher war ein verlorener Tag. Ich las alles, was ich kriegen konnte kurz und klein.
Besonders begehrt aber waren die Bücher meiner älteren Schwester. Meine Schwester hatte ihre Bücher in blaues Papier eingeschlagen und mit Nummern versehen, damit sie sich notieren konnte, wer sie sich ausgeliehen hatte. Sie verlieh sie aber überhaupt nicht. Diese Nummerierungen waren nur Teil ihres Ordnungswahns. Schon gar nicht hatte sie vor, ihre Bücher an mich zu verleihen. Dazu hatte sie viel zu großen Spaß daran, mich als jüngere Schwester leiden zu sehen und ihre Macht zu demonstrieren. Und wie ich litt! Sie besaß diese wundervollen Schneiderbücher von Hanni und Nanni und Dolly, die im Internat lebte – aber genau die durfte ich mir allenfalls von weitem anschauen.
Dann kam der Tag X! Meine Schwester fuhr für zwei Wochen zu meiner Großmutter. Kaum hatte sie das Haus verlassen, stürzte ich in ihr Zimmer. Aber die wundervollen blau eingeschlagenen Bücher waren verschwunden. Nur ein kleiner Rest war in ihrem Regal verblieben. Ich fragte meine Mutter, doch auch sie hatte keine Ahnung, was damit passiert war.
So viele Bücher konnten doch nicht vom Erdboden verschluckt sein, und mitnehmen konnte man sie auch nicht. Also machte ich mich im Haus auf die Suche. Ich durchsuchte jeden Winkel unseres Hauses, aber ich fand sie nicht. Meine Schwester meldete sich schadenfroh am Telefon und sagte, sie habe die Bücher einer Freundin gegeben, aber das wollte ich nicht glauben. Ich suchte, grübelte, suchte weiter. Irgendwann kam mir eine Idee. In einem kleinen Abstellraum hinter dem Elternschlafzimmer befanden sich unsere Koffer, fein säuberlich der Größe nach übereinander gestapelt. Ich zog einen Koffer nach dem anderen heraus und öffnete ihn. Nichts. Erst als ich den untersten Koffer öffnete – es war der große alte Marinekoffer meines Vaters leuchteten -sie mir entgegen.  Diese blauen Umschläge erschienen mir wie glitzernde Goldstücke. Ich konnte es nicht fassen, hüpfte durch`s  ganze Haus und brüllte vor Freude.
Nun begannen die Sommerferien auch für mich. Vierzehn Tage blieben mir, all diese Bücher zu lesen. Und das tat ich auch. Ich lag bewegungslos im Liegestuhl auf der Terrasse und las und las. Die Sonne schien, hin und wieder sagten meine Eltern, ich solle doch mal in den Garten gehen und spielen, aber dazu hatte ich keine Zeit.
Was für Ferien! 

(Foto: Goslar)

7 Kommentare:

  1. Was für schöne Lese-Erinnerungen! Du hast nur vergessen zu erzählen, wie Deine Schwester reagierte, als sie zurückkam. Das hat sie doch garantiert gemerkt, oder?
    Bei uns wurden die Bücher immer schwesterlich geteilt. Gezankt wurde sich nur darüber, wer welches Buch zuerst lesen darf. Noch schöner als lesen fanden wir es nämlich, hinterher über die Bücher zu quatschen.

    Liebe Grüße
    Nikola

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    1. Ja, meine ältere Schwester war immer ziemlich eigen. Aber ich hatte ja noch eine Schwester, Gott sei Dank!
      Als meine ältere Schwester zurück kam, hat sie natürlich gemeckert, aber sie konnte ja nichts machen: Gelesen ist gelesen! Haha!

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  2. Hach, das waren noch Zeiten... zwölfhundert Seiten an einem Tag... ^^

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  3. Eine herrliche Geschichte. Das Happy End fast zu schön, um wahr zu sein. Hanni und Nanni, dieser Buchtitel weckt auch bei mir Kindheitserinnerungen.
    Kanntest du den sechsteiligen Wälzer von Gulla, dem mausarmen schwedischen Mädchen? Und Heidi, das kennst du sicher auch...

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    1. Gulla kenne ich nicht, aber Heidi natürlich. Es war aber schon weit vor meiner Zeit erschienen, und ich hatte es in Sütterlinschrift aus dem Kinderschatz meiner Mutter übernommen.

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    2. Kein Wunder, unsere Johanna Spyri schrieb "Heidi" auch im vorletzten Jahrhundert.
      Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das Buch gelesen habe, aber mit Sicherheit habe ich sämtliche Filmversionen mehrfach gesehen, inkl. der Trickfilm-Serie.

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  4. Diese Episode würde sich doch bestimmt in eines deiner Jugendbücher einbauen lassen - herrlich...

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